Dieser November geht für mich in die Geschichte ein. Ist es in dem Monat doch sonst immer alles grau-in-grau, regnerisch, kalt und bedeckt, so zeigte sich bisher überraschend oft die Sonne, und sogar Beobachtungen gingen sich aus. Zwar nicht überragend viele, aber das ist schon mehr, als ich erwartet hatte. Spannend ist natürlich außerdem die Entwicklung auf dem Kometenmarkt. Ich habe mich von diesem Fieber anstecken lassen, verfolge aufmerksam alle Infos und Meldungen und als wir sahen, dass es in der Früh, wenn die Schweifsterne sichtbar sind, klar sein soll, planten wir unseren nächsten Trip in die Nacht.
Der Standort bei Schönebeck hätte mir auch gelangt, aber es musste natürlich der Superplatz sein. Für die Kometen nur das Beste. Als der Wecker klingelte, war es freilich wieder hart, sich aus dem Bett zu schleppen und die Kälteklamotten anzuziehen. Es sollte küüüühl werden. Die Autoscheiben waren bereits vereist, denn während der ersten Nachthälfte war der starke Taubeschlag gefroren. Brr… Um 02:26 Uhr hatten wir das Auto fertig beladen und fuhren in den Fläming – ein einsames Auto in der tiefen, düsteren Nacht, während der Rest der Welt noch gemütlich pennen darf. Was tut man nicht alles… „Ich glaube, das wird eine dieser Nächte, die man hinterher nicht mehr vergisst“, prophezeite ich.
Eine halbe Stunde später erreichten wir den Beobachtungsplatz. Martin war schon da und hatte den Astrostuhl aufgebaut. Als ich den Wagen in die übliche Parkposition auf dem Grünstreifen manövrieren wollte, geschah das Unglück: Ein ruckartiges Aufsetzen mit dem linken Vorderreifen. Schon klar, was passierte. Ich war in eine dieser berüchtigten Rillen gefahren, die sich manchmal am Feldrand befanden. Mit Rückwärtsgang kam ich nicht hinaus, trotz mehrmaligen Probierens, und sah gedanklich schon den ADAC-Hubschrauber anfliegen. Ich stieg aus, um mir das Problem mal anzusehen. Jackpot! Volltreffer! Es war nur ein einziges Loch, aber groß und tief genug, dass der Reifen komfortabel und gemütlich darin platzfand. Entgeistert hörte ich zu, wie Martin die Chancen eines Abschleppseil-Manövers analysierte. Letztendlich konnten wir den Wagen befreien, indem die beiden Herren das Heck anschoben, während ich mit Vollgas [den Rückwärtsgang einlegte] beschleunigte, sodass der Reifen nach vorn aus diesem unsäglichen Loch herauskam. Meine Güte, so ein Stress am frühen Morgen!
Als ich nun endlich einen Blick für den Himmel übrig hatte, war ich auch nicht unbedingt aus dem Häuschen. Bodennebel im niederen Gelände; dunkle, schnelllebige, tiefe Wolken im Süden; Suppe ringsherum und außerdem noch der orange Mond am Westhorizont. Uwe nannte es treffend „Waschküche“. Zudem waren die -2°C nicht gerade mollig warm. Egal, die Luft war herrlich kühl und frisch und der Gedanke an den Kometenreigen hielt die Motivation aufrecht. Wir beeilten uns mit dem Geräteaufbau und je näher wir der Vollendung kamen, desto bewölkter und nebliger wurde es. Ja, mal wieder typisch…
Es wurde langsam wieder besser und hinter dem sich auflösenden Schleim zeigte sich ein dunkler, blanker Himmel. Wow. 21,32 mag/arcsec² in mehreren Richtungen, nachdem sich der Mond verkrümelt hatte. Der Kopf des Löwen war frei, und ich steuerte sogleich C/2013 R1 Lovejoy an, der im Sucher als riesiger runder Nebelball daherkam und im Teleskop einfach nur umwerfend erschien. Besonders ästhetisch war es, dass der Komet mitten in einem spitzwinkligen Dreieck aus gleichhellen Feldsternen stand. Ein helles Zentrum, aber ohne stellaren false nucleus, von dem aus die Helligkeit in der Koma nach außen gleichmäßig abnahm. In nordwestlicher Richtung erstreckte sich ein breiter Schweif, der bei indirektem Sehen wesentlich länger wurde und leicht gebogen erschien. Bei höherer Vergrößerung offenbarten sich die inneren Strukturen: Am Kern dockte ein hellerer Trichter an, der sich nach Südosten öffnete und dessen östliche Kante etwas stärker definiert war. In entgegengesetzter Richtung ging vom Kern ein zweiter Trichter ab, aber wesentlich schwächer, dünner und sehr kontrastarm. Lovejoy war ein ziemlich flotter Bursche, denn in der Beobachtungszeit wanderte er auffällig auf die spitze Ecke des Dreiecks zu.
Nachdem ich nun dieses erste „Must-Have“ im Sack hatte, wurde ich ruhiger. Leider hatte ich weder Beobachtungsbuch, noch gescheites Blankpapier dabei, und musste daher die Rückseiten vergangener, zerknitterter Aufsuchkarten bemalen, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hatten. Es war nun fast 04:00 Uhr und die Welt absolut still; der Boden glitzerte im Licht der roten Taschenlampen und das erstarrte Gras knarzte und knirschte beim Zertreten. Und schon hatte sich ein milchiger Eisschleier auf dem Fangspiegel niedergelassen – Hochverrat!! –, was den Fön auf den Plan rief. So wars vorbei mit der Ruhe. Auch Uwe musste ihn benutzen; „prophylaktisch“, wie er meinte.
Als Lückenbüßer hielt der Offene Haufen NGC 2664 her, der sich gut 1° nordwestlich von M 67 befindet. Es ist kein spektakuläres Objekt. Unauffällig, arm und lose. Markant war lediglich das große Trapez aus vier hellen Sternen, die das Grundgerüst bildeten und von wenigen weiteren Mitgliedern umsprenkelt waren, doch ein Haufencharakter war nur mit Fantasie zu erkennen.
Am Osten war der Bootes komplett aufgegangen und der abgedimmte Arktur zeigte an, dass man auf „Mister X“ gehen könnte. Die tiefen Nebelschleier gaben den Blick in diese Region frei. C/2012 X1 LINEAR war schnell gefunden, zeigte sich aber ähnlich „luschig“ wie bei der Beobachtung aus Schönebeck heraus. Nur ein schwächlicher, runder, wenig kondensierter Ball. Die Außenbereiche liefen diffus aus. Kein Kern sichtbar und keine auffällige Bewegung festgestellt.
Martin verteilte vereiste RitterSport-Espressos und Uwe föhnte wieder, kurz bevor er die Kaffeepause ausrief. Beide hatten sich über die Bedingungen unterhalten und fragten sich, warum es im Löwen so hell war. Martin war dies neulich schon in Chemnitz aufgefallen. Man brachte das Zodiakalband ins Spiel, was mich aufhorchen ließ. Zodiakalband? Im Fläming? Hier?! Tatsächlich ließ sich ein heller Schein nicht leugnen, der sich kontinuierlich durch die Tierkreiszeichen zog und nördlich vom Orion durch die Milchstraße durchstieß. Schon seltsam. Bis in einer Höhe von etwa 30° herrschte das chaotische Wettergewäsch – je tiefer, desto schlimmer –, und darüber hinaus war es wunderbar klar. 05:00 Uhr, als ich nach einer Runde Fangspiegel-Fönen weitermachte, nicht gerade produktiv, und zu Uwe witzelte: „Hey, du musst jetzt los, zur Arbeit!“
Ein weiterer Offener Haufen war Ray 2 in der Grenzregion UMa, LMi und Leo. Es war der so ziemlich hässlichste Haufen, den ich je gesehen habe. Bei 56x eine dichte Gruppe aus wenigen Sternen, die wie zufällig wirkte. Auch höher vergrößert gab Ray 2 nicht viel her. Zwischenzeitlich ein blitzschneller, heller Meteor im Kleinen Bären mit Nachleuchtspur… Ähm, der Haufen? Eckig angeordnete Mitglieder, sahen fast wie eine schemenhafte Palme aus. Aufgelöst, aber sehr langweilig.
Nebenan hörte ich, wie Uwe sich über ISON freute, und die Ricoh klickte. ISON? Ist es schon soweit? – Tatsächlich. Gamma Virginis hatte sich dem bodennahen Dunst emporgehoben und glomm matt in der Suppe. Westlich davon zeigten sich gute Bedingungen; Orion und der Große Wauwau und die dort verlaufende Milchstraße zeigten sich ungetrübt; auch der Löwe wies noch diese ominöse Aufhellung auf, die das Zodiakalband sein könnte. Während ich die Position von ISON in meinen Atlas eintrug, mehrte sich das kollektive Gejammer von Uwe und Martin, weil die Nebelküche im Süden aufstieg und die Zielregion verschluckte. „Uaah, jetzt ist der ganz weg! Nix mehr auf der Aufnahme! Das gibt’s doch nicht!“ Für einen Moment jagte Uwe mir außerdem einen Schrecken ein, als er neben meinem Teleskop stand und todernst behauptete: „Dein Hauptspiegel ist beschlagen. … … … April April!“
Zum Glück löste sich das Gewaber langsam wieder auf, und ich kniete auf dem Boden und peilte in die Jungfrau. Es bedurfte wieder keiner langen Suche, bis ich glückselig meinen Fund verkünden konnte. „Da ist er, der ISON, mit seinem … oh, wow, … K*ck-Mist-Schweif…“ Was für ein Anblick. Ein sehr heller Kern, den eine runde, ebenfalls helle und gut abgegrenzte Koma umgab, aber wesentlich kompakter als Lovejoy. Nach Westen verlief dieser irre Schweif. Sehr lang, dünn und spitz. Den pyramidenförmigen Ansatz des zweiten, schwächeren Schweifes glaubte ich auch zu sehen, aber das behaupte ich nur unter Vorbehalt. Könnte auch Einbildung gewesen sein. C/2012 S1 ISON bewegte sich ebenfalls flink in östliche Richtung, was auch bei dem sternarmen Umfeld auffiel.
Im Südosten ragte mittlerweile das helle Dreieck des Zodiakallichts empor, was wir von hier aus so noch nicht erleben konnten. Ein paar Meter weiter klapperte Martin mit seinem Equipment; er machte sich zum Aufbruch bereit und verließ uns um 05:53 Uhr. Durch den langsam heller werdenden Himmel wurde das Ausmaß der Nebelschwaden klar. Wir waren umzingelt. „Das wars für mich, ich hab alles, was ich wollte“, sagte ich und begann ebenfalls mit dem Abbau des 16-Zöllers, während sich Uwe noch mit ISON beschäftigte und später die interessante, dynamische Szenerie festhielt. Wunderschöne Motive! So unbeständig das Wetter auch war, aber in der Dämmerung war es einfach nur toll anzuschauen. Typisch herbstliche Nebellandschaft, mit kahlen Bäumen, vom Raureif weiß belegtem Gras und fast schon andächtiger Stille. Ich rannte umher, es war ziemlich kalt, und befreite das Auto vom Eis. Um halb 7 verließen wir den Tatort und gerieten in den beginnenden Berufsverkehr. Uwe regte sich auf: „Was fahren die denn hier rum? Die sollen zuhause bleiben und ausschlafen!“ Wir lachten uns kaputt.
Ja, diese Beobachtungsnacht werden wir wohl nicht mehr vergessen!
Ein Beobachtungsbericht von AKE
Magdeburg, 14.11.2013