Die Gelände-Vorerkundungen am Tag zuvor hatten sich bezahlt gemacht, denn so wussten wir gleich, wo wir uns für die kommende Nacht positionieren wollten. Die weitläufige, flache Kuppe der Gerlitzen (1.909 m) bot zwar verdammt viel Platz, aber auch diverse tückische Lichtquellen, denen wir ganz gern entgehen wollten. Hinter so einem Gebäude für… ja, für was eigentlich? Für die Seilbahn? Keine Ahnung, jedenfalls fanden wir es da ganz gut, da einerseits der Parkplatz noch gut erreichbar war und die verdächtigsten Lichtsäue verdeckt waren. Unser Hotel, das Pacheiner, ebenso. Man hatte zwar noch Blick auf eine Unterkunft auf dem eigentlichen Gipfel, aber wir vermuteten, dass es dort nicht allzu hell sein würde.
Nach einem reichhaltigen Abendessen mit 5-Gänge-Menü blickten wir von der Hotelterrasse freudig auf den klaren, goldenen Abendhimmel. Die Sonne neigte sich gefährlich nah gen Horizont und sollte bald in die fernen Berggipfel im Westen eintauchen. A bisserl palmaresk. Bunte Sonnenuntergänge fetzen! Auch der fast-Halbmond erschien im Süden, wo die slowenischen Alpen mit ihren wilden Hügeln lauerten. Ein tolles Panorama.
Gegen halb 10 fuhren wir mit dem Auto auf den Gipfelparkplatz hinauf und begannen, möglichst leise und im Flüsterton, unsere Sachen zu sortieren und für den Transport zum 60m entfernten Beobachtungsplatz zu sammeln. Es war verdächtig warm – 12°C. Und windstill! Im Vergleich zu der durchgeschüttelten Nacht auf dem Seeplatz richtiggehend fremd. Norman trug die schwere Spiegelkiste meines 16ers hinüber, da man mit dem Auto nicht über den Parkplatz hinauskam. So musste ich außerdem bezüglich einer Arbeitsfläche improvisieren und funktionierte kurzerhand meinen stabilen Picknickkorb zu einem Tischlein um, in welchem ich zeitgleich die Okulare aufbewahren konnte. Das System könnte ich glatt weiterführen. Ein letztes spazierendes Pärchen eilte vorbei und überließ uns die Herrschaft über das karge Plateau. Nachdem ich das Teleskop aufgebaut hatte und freudig feststellte, dass das Seeing verdammt gut war (kaum Sternflimmern), pilgerte ich nochmal zum Pacheiner hinab und ließ die frühen Perseiden über meinen Kopf hinwegzischen.
Sehr markant war ein Mast, der direkt neben uns stand, da er eine grelle rote Leuchte an seiner Spitze trug und das Licht in die Ferne entsandte. Norman äußerte Skepsis darüber, mich jedoch störte er nicht sonderlich – also, der Mast. Die letzten hellen Lampen im Gipfelhaus erloschen, doch die Orte im Tal (v.a. Villach) schickten nun ihre gewölbten Lichtglocken nach oben. Schade, denn dadurch wurde der tiefe Osthorizont versaut. In diesem ominösen Schuppen neben uns piepte es kontinuierlich – anscheinend hatten es sich ein paar Piepmätze dort gemütlich gemacht. „‘Ne nette Begleitung grad“, meinte Norman, der seinen Dobson währenddessen eine Extraladung Streulichtschutz verpasste. Er hatte sich tagsüber einen Beobachtungsplan zurechtgelegt und wollte eine große Sternhaufen-Sightseeingtour in der Cassiopeia veranstalten, auf die er sich freute.
Ich stellte M 15 ein, um den Anblick im Okular zu kontrollieren. Dieses gute Seeing fand ich irgendwie verdächtig. „Geil! Scharfe Sterne bei 200x!“, rief ich, weil diese Flauschebälle von der Nockalmstraße doch nachhaltig äußerst verstörend waren. Einen Haken gab es dann aber doch. Als ich meinen Atlas in die Hand nahm, fühlte ich die Feuchtigkeit. „Ich fürchte, ich ahne, was heute das Problem sein dürfte.“ – „Was denn?“ – „Es wird mächtig nass.“
Den Atlas hatte ich gebraucht, um mein erstes Ziel zu finden, NGC 5687. Im Drachen. Das gute Seeing machte sich schon hier bezahlt, denn ich wurde mit einem äußerst ästhetischen Anblick belohnt. Die ovale, strukturlose Galaxie lag eingebettet in eine rechtwinklige Kette aus vier nadelfeinen Sternen. Ein Genuss bei 200x. Nebenan hörte ich Normans Fluchen, weil er schon wieder die Kappe auf seinem einen Okular vergessen hatte. „Immer wieder dasselbe Spiel…“
Irgendwelche nervigen Nachtwanderer mit Taschenlampen waren auf dem Parkplatz zugange. Ich versuchte, sie zu ignorieren und ärgerte mich mit dem Aufsuchen von NGC 5678 herum. Fast dieselbe Nummer wie das Objekt eben, aber mit ganz anderer Morphologie. Und was für eine! Die oval-linsenartige Galaxie mit einem eher mäßig starken Zentrum zeigte einen abrupten, geradkantigen Helligkeitsabfall nach Norden hin, in Richtung eines hellen Vordergrundsterns. Der gesamte Zentralbereich wirkte irgendwie unruhig und parallelogrammartig verzerrt, und im Süden nahm ich einen breiten, geschwungenen Spiralarm wahr. Bei höherer Vergrößerung tauchte mittig doch noch ein stellares Kernchen auf. Ein richtig, richtig cooles Ding!
Die Temperaturen waren zwar ganz angenehm, dennoch zog ich mir präventiv einen Handschuh an. Kann nie schaden, so ein Handschuh. Alles, was bodennah lagerte, war mittlerweile angefeuchtet, doch die Teleskopoptik schien davon nicht betroffen zu sein. Ich peilte zu NGC 5667, zu der ich mir im Atlas die Notiz „Klumpen“ eingraviert hatte. Überraschend schwach auf den ersten Blick. Bei 200x länglich-stäbchenförmig, mit einem Sternchen direkt am Nordrand. Das Zentralgebiet wirkte ebenfalls länglich. Bei indirektem Sehen fiel der erwähnte Klumpen am Südende der Galaxie ins Auge. Von der gebogenen Form des Stäbchens war leider nichts zu erkennen.
Nach einem kurzen Besuch bei NGC 5430 und NGC 5474, die ich nicht übermäßig spannend fand (ein längliches Ding und ein diffus-bauschiges Ding), pilgerte ich zur Karstadt-Klamottentüte und zog mir ein bisschen mehr an, da es merklich kühler geworden war. Blick auf die Uhr: Genau Mitternacht. Es war mucksmäuschenstill auf dem Gerlitzen-Gipfel, abgesehen von den Stimmen zweier Hobbyastronomen neben dem roten Mast. Wir hatten den Flüsterton mittlerweile aufgegeben und unterhielten uns in Normallautstärke. Dann und wann blitzte es jäh auf, was wir bald als Wetterleuchten tief unten am Nordhorizont ausmachten. Da ging wohl grad die Post ab.
Ich blieb der Karte 10 treu und stellte NGC 5987 ein. Diese Galaxie zeigte ein Staubband aufm DSS, und auch wenn ich wusste, dass das so nicht im Dobson zu sehen sein würde, erhoffte ich mir zumindest mal eine härtere Kante. Das längliche Objekt war fix eingestellt, aber die Detektion der harten Kante dauerte unerwartet lange. Ich sah sie entlang des Südostrands des Nebels, genau gegenüberliegend von dem hellen Feldstern, aber sonderlich hart war das nun nicht. Weil sich Norman im Vorfeld äußerst interessiert gezeigt hatte an NGC 5987, durfte er auch mal durchschauen. Wir tauschten die Teleskope – im 12er war gerade ein schöner Katzenaugennebel bei 300x zu begutachten.
Ich wollte anschließend NGC 5908 besuchen und dachte mir, mit Blick auf die Karte, als Aufsuchhilfe könnte ja M 102 herhalten, die 1,5° entfernt rumhing. Und da mir eben die Sichtung eines eindeutigen Staubbandes quasi verwehrt blieb und das Seeing so exquisit war, wollte ich es mal damit probieren. Das linsenförmige helle Gebilde tauchte im Okular auf und ich vergrößerte, dank der freundlichen Unterstützung durch Normans 8er Ethos, auf 225x. Und dann starrte ich den Zentralbereich an und hoffte, dass sich da irgendwas Spannendes tut. Und dann! Plötzlich, unvermittelt, jäh, schlagartig, blitzartig – da war es! Ein dünnes, schwarzes Bändchen, das für einen Sekundenbruchteil mittig in dem rundlichen Zentrum stand. Einer jener Momente, in denen einem vor Schreck das Herz stehenblieb. Ich schlug Alarm und gab eigenartige Laute der Überraschung von mir; brabbelte irgendwas Schrulliges, was Norman erst durch mehrfaches Nachfragen deuten konnte. „Uaaaharghh!“ – „Was?“ „Daa!!!“ – „Was haste denn?“ – „Ich geh kaputt. Ich geh SOWAS von kaputt!“ – „Was??!“ – „M 102! Staubband! Ahhh!“ – „Oh!!“ – „AAAHHH!“ Er kam sofort herübergesprungen und versuchte sein eigenes Glück an der Dustlane, während ich meine euphorisch angehauchten Notizen schrieb. Anschließend machte ich mich selber wieder darüber her. Es brauchte ein Weilchen des beharrlichen Zentrum-Anstarrens, doch das schwarze Band blitzte immer öfter und immer länger aus der Galaxie heraus, beinahe dauerhaft, und jedes Mal jaulte ich überrascht auf. „Scheiße ey, das ist einfach da! Das ist schlichtweg DA!“ Norman schaute auch noch ein zweites Mal durch.
Die Sichtung der eigentlich gewünschten NGC 5908, ebenfalls mit einer Dustlane, konnte dann natürlich nur in einer Enttäuschung enden. Die lange, auffallend spitz auslaufende Galaxie wies lediglich eine härtere Westkante auf, was ja aber auch irgendwie als Erfolg zu werten ist, oder irgendwie sowas.
„Hast du auch mal ‘ne Minute? Ich brauche nämlich mal deine Expertise.“ Ich ging herüber zum 12er, um zu ergründen, wobei Norman grad Rat benötigt. Es ging um einen Reflexionsnebel-Komplex, und ich beschrieb, an welcher Stelle ich dort Nebel sah. Mir fiel sofort ein flächiges Objekt auf, nördlich von einem sehr hellen Sterndreieck. Rings um das nördlichste Mitglied des Dreiecks schien sich ein weiterer, weitaus schwächerer Hauch zu befinden, der gut und gerne als „artefaktbedingter“ Hof durchgehen konnte. Norman bestätigte meine Einschätzung, war sich aber unsicher, wie das Gesehene mit den eingetragenen Atlas-Markierungen in Einklang gebracht werden konnte, und inwieweit Herbig-Haro-Objekte im Teleskop sichtbar sind. Es stellte sich nämlich heraus, dass das kleinere, auffällige Knäuel HH 162 bzw. 164 war, während es sich bei dem „Hof“ um vdB 1 handelte.
Ein weiteres Ziel im Drachen war das Duo NGC 6285 und 6286, agglomeriert unter der Bezeichnung Arp 293. „Überraschend schwach“, lautete die einzige Notiz dazu – für alles Weitere machte ich ‘ne Skizze. Tadaaa, hier ist sie:
Ich warf mal wieder einen Blick auf den Chronometer: 01:11 Uhr. Ich war überrascht, was sich in nur einer Stunde so alles ereignet hatte. Norman zog sich was Wärmeres an, während überm Osthorizont die Plejaden emporstiegen. Heraus aus Villachs Lichtglocke, wie der Phönix aus der Asche. Um dem Nacken etwas Entspannung zu gönnen, flanierte ich ein wenig über das Plateau und erging mich in meinen verqueren Gedanken. Der Gegenschein, und ein Stückchen Ansatz vom Zodiakalband links und rechts, war in den Fischen deutlich zu erkennen, trotz der Himmelsaufhellung. Weiterhin war das Seeing sehr gut und es blieb windstill – richtig gute Bedingungen!
Mit NGC 7769/70/71 peilte ich nun eine tolle Gruppe an, zu der ich mir keine weiteren Notizen machte, sondern nur eine Zeichnung anfertigte und Norman ans Okular bat, der das Konglomerat ähnlich gut fand.
Ich hatte noch eine Rechnung offen mit dieser bescheuerten Superthin bei NGC 7241, die mich auf der Nockbergstraße in die nagenden Hände der Frustration trieb. Diesmal war ich allerdings erfolgreicher. Denn alsbald schälte sich irgendwas Längliches westlich von 7241 und dem hellem Feldstern heraus. Nicht dauerhaft haltbar, aber sicher und wiederholt. Norman lieh mir sein 8er Ethos aus, wodurch die Superthin nochmal einfacher wurde, auch wenn es mir jetzt schwerfällt, die Vokabel „einfach“ für dieses blöde schwache Mistding zu bemühen. Anschließend packte mich ein Lachanfall, weil mich das Wort „Nut“ belustigte. Als Norman sein Ethos wieder aus meinem OAZ entfernen wollte, sagte er: „Ach, mach du mal. Ich weiß ja nicht, ob du hier irgendwelche Nuten hast…“ – „Nuten!“ – „Jahaaa.“ – „Nuten! Als würde ich Nuten haben! Seh ich so aus, als hätte ich Nuten?!“ Nach ein paar Minuten der ständigen Wiederholung des Wortes „Nuten“ und nachfolgenden Lachsalven kriegte ich mich endlich ein und wurde wieder der hochseriöse Mensch, der ich ja normalerweise auch bin.
Ich hatte schon meine nächste Zielregion angepeilt und wollte nun im Okular starhoppen, als Norman plötzlich laut und überrascht Alarm schlug: „LINKS, hinter dir!“ Ich nahm es bereits in den Augenwinkeln wahr: Aus westlicher Richtung, hinter der Dachkante des Lagerschuppendingensgebäudes, erschien etwas, was wir erst für einen verglühenden, auseinanderbrechenden Boliden hielten. Mehrere goldorangene Lichtpunkte zogen salvenartig, wie eine abgeschossene Silvesterrakete, hinauf und wanderten gemächlich über den Himmel nach Osten. Langsamer als ein gewöhnlicher Bolide, schneller als die ISS. Die Fragmente, ca. 6-7 Stück, waren alle ähnlich hell (-1,5 mag etwa) und machten keinerlei Anstalten, irgendwie mal schwächer zu werden. Wie ein dichter Vogelschwarm zogen sie über der Bergwelt hinweg. Uns hatte es die Sprache verschlagen; ich staunte nur mit offenem Mund nach oben und verfolgte die Erscheinung. Jeden Moment rechnete ich damit, dass die Teile verglühen und das Spektakel beendet wird. „Bis zu den Plejaden schaffen sies bestimmt nicht“, dachte ich, aber die orangene Lichtsalve belehrte mich eines Besseren. Knapp westlich der Plejaden, knapp überm Osthorizont, tauchten die Fragmente in die Lichtglocke und den Dunst ein und verblassten. Oder sie sind dort von selber verglüht, wer weiß. Wie lange sie unterwegs waren, ließ sich schwer schätzen. Irgendwas zwischen 15 und 30 Sekunden.
„Boah. Was warn DAS fürn Ding?!“ Norman kriegte sich die nächste Zeit kaum mehr ein und beschrieb seine Eindrücke mehrfach („Das zog einmal quer über den Himmel! Boah!“), zog Vergleiche („Wie so ein Geschwader! Wie eine Perlschnur!“) und analysierte die strukturelle Beschaffenheit des potentiellen Himmelskörpers („Muss extrem porös gewesen sein, sonst wären die Bruchstücke nicht alle gleichhell gewesen.“). Ich fragte mich hingegen, ob die Erscheinung nicht vielleicht irdischen Ursprung gewesen ist. „Haben die irgendeinen Satelliten runtergeholt und abstürzen lassen? Weltraumschrott vielleicht? Oder die ISS ist verglüht, das wärs doch.“ Wir tauschten uns noch lange über die Sichtung aus und waren uns einig, dass wir so einen Boliden noch nie gesehen hatten.
Die Geschichte hat mich völlig aus dem Konzept gebracht und ich musste mich erstmal wieder in die Beobachtung reinfinden. Es ging zu einem Grüppchen in der Andromeda, dessen Kartendarstellung mich rätseln ließ. Ich konnte nicht erkennen, was da stand. NGC 160 war klar, aber die Labels von NGC 169 und IC 1559 waren dermaßen ineinander verschachtelt, dass ich 169 für einen komischen Asterismus hielt und den IC für einen winzigen Reflexionsnebel, der darin eingebettet lag. Blick durchs Okular: „Häh? Isn des?“ Der runde Hauptkörper von 169 wirkte irgendwie körnig, grieselig, granuliert. Wie ein unaufgelöster Kugelsternhaufen. Der helle Feldstern östlich davon irritierte den Anblick zusätzlich. „Kann ich nochmal dein 8er nehmen? Ich hab‘ hier grad was ganz Komisches.“ Mit längerem Hinsehen knäuelte sich das Ding auf in was Längliches und was noch was kleineres Längliches, was südlich von dem ersten Länglichen stand. Beides war verbunden durch eine Nebelhülle, die nach Westen hin eingekerbt schien. Eigenartiges Galaxiengehuddel – aber echt cool.
Und noch viel cooler an der Sache ist, dass ich das Pärchen 2013 auf dem Tiefenbach schonmal beobachtet und gezeichnet hatte, ohne mich aber daran erinnern zu können. Viel anders als vor drei Jahren sah das jetzt aber auch nicht aus.
Es folgte ein Intermezzo mit NGC 14, der ich nicht viel abringen konnte. „Runder diffuser Bausch?“ Naja. Seeing stimmt, also wollte ich mich stattdessen an was Unmoralisches, Anrüchiges wagen. Was Ungehöriges. Ich ging auf PGC 69457, berühmt ob ihrer Funktion als Wirtsgalaxie von Einsteins Kreuz. Nun ja, was soll man da sagen. Schon die PGC selber war nicht sonderlich easy. Ein paar flüchtige Male blitzte sie bei indirektem Sehen schwach heraus, das war schon das höchste der Gefühle. Norman fragte, wo ich grad dran bin. Ich wollte erst nicht darauf antworten, und mich lieber totstellen oder irgendeine Messier-Notlüge bemühen, aber dafür war ich dann doch zu stolz. In der Hoffnung, dass er nicht laut loslacht: „Einsteins Kreuz hab ich grad versucht, sinnloserweise.“ – „Oh! Uuund?“ – „Ähm. Naja. Ähm. Mit Ach und Krach hab ich die Galaxie gesehen. Das wars.“ Norman lachte laut los. „Was gibtsn da bitte zu lachen?!“ – „Weils bei mir genau das Gleiche war! Mit Ach und Krach die Galaxie erkannt…“
Geläutert und reumütig kehrte ich zu meiner klugen To-Do-Liste zurück und wählte NGC 7714 aus. Der Stern 16 Pis stand im gleichen Feld südlich von ihr und irritierte den Anblick. Die Galaxie war rundlich und mit einem hellen Kern, der ein wenig nach Westen versetzt schien. Mir fiel ein weiteres Nebelchen mit langgezogener Gestalt auf, das jedoch nicht im Atlas hinterlegt war. Östlich von 7714, etwa einen rechten Winkel zu 16 Pis bildend. Zuerst unsicher, doch der Eindruck manifestierte sich. Es handelte sich um NGC 7715.
Ich freute mich, wie sich die Einträge auf dem schlauen Zettelchen verringerten. Abgesehen von ein paar Sachen vom Frühsommerhimmel, die ich zeitmäßig schlicht verpasst hatte, lag ich top im Rennen. Als nächsten Programmpunkt durfte NGC 7081 herhalten, die mich aber nicht zu begeistern vermochte – im Gegenteil, ein „hä?“ entrang sie meinem Bleistift im Notizblock. Außer zwei Vordergrundsternchen südlich davon konnte ich nichts Spannendes sehen. Eine rundliche, kompakte, schnarchlangweilige Galaxie. Das eigentlich Besondere an ihr – der Grund, warum ich sie in die Liste aufgenommen hatte – war auf dem DSS-Bild zu erkennen: Sie wirkte wie ein kleiner, kompakter, grieseliger Kugelsternhaufen. Aber halt leider nicht im Okular.
Norman freute sich ebenfalls, denn er hatte erfolgreich einen Quasar in den Fischen aufgestöbert. „Sogar total einfach!“ PG 0117+21 hieß der Schlawiner. Norman zeigte mir auf einer selbstausgedruckten Karte ein markantes Muster, von dem aus der Quasar sehr einfach auffindbar ist. Tatsächlich ließ sich problemlos an der entsprechenden Stelle ein schwaches Pünktchen verorten. Für mich zwar nicht dauerhaft haltbar, aber zu, naja, schätzen wir mal, 70,39% der Zeit zu sehen.
Nächste Station auf meiner galaktischen Reise war NGC 145. Sie präsentierte sich als überraschend schwacher Nebel, „sehr schwach“, beinah im Hintergrund verlierend. Diffus, ohne Helligkeitspeaks, ohne Kern. Mir erschien die Form ein wenig unregelmäßig und ich meinte, eine Art Balken zu sehen, doch so ganz überzeugte mich das Konzept irgendwie nicht. Notiz aus dem Buch: „Aber ich seh‘ da nix, was wollt ichn da?“
Es schon halb 4 oder so. Der 16er peilte munter zu der Galaxiengruppe NGC 274/5/3, die in der oberen Walfischflosse steht. Nett! Das ist ja wieder nett. Die runde 274 zeigte sich auffällig und mit einem hellen Zentralbereich. Direkt östlich andockend, aber noch mit einem Zwischenraum zur Nachbarin, war 275. Nahezu homogene Helligkeit auf der ganzen, etwas unregelmäßig wirkenden Fläche, aber was da genau unregelmäßig war, erschloss sich mir leider nicht. Nördlich, etwas weiter ab vom Schuss, befindet sich NGC 273, die mit länglich-linsenförmigem Aussehen, feinem stellaren Kern und einem Nachbarsternchen beim Nordrand aufwarten konnte.
Über die Gipfel der Berge im Norden, aus denen es ja die ganze Zeit blitzte, hatte sich ein schemenhafter Wolkenteppich gespült, der sich langsam in das Tal darunter ergoss. Bis zu den Gerlitzen jedoch reichte es nicht. 03:40 Uhr zeigte das Uhrendisplay, und Norman hatte sich mit der Kamera auf die Pirsch begeben, damit wir uns auch ein paar schöne Sternaufnahmen ins Poesiealbum kleben können.
Das letzte erreichbare Ziel, was ich noch auf dem Zettel hatte, war NGC 51. Rhythmische Sportgymnastik am frühen Morgen war nochmal gefragt, denn das Galaxiengrüppchen stand quasi zenitnah direkt über uns. Ich verbog mich lustig hinterm Sucher. Das gibt gleich wieder Nacken. „Trio“ stand notierenderweise im Atlas, und ein Trio sah ich auch im Okular. Sehr vielfältig! 51 als auffälliger, runder Eyecatcher nördlich eines Sterns. Westlich davon zeigte sich NGC 49 als deutlich schwächeres, kompaktes Bällchen. Und nochmal gen Westen schälte sich eine diffus-flächige NGC 48 heraus, für die ich mich schon etwas mehr anstrengen musste. Im Süden dieser Dreierreihe wären auch noch zwei IC-Galaxien vorhanden, die ich aber nicht wahrnahm.
Um 04:00 Uhr stand schon das Zodiakallicht im Osten, wie ein böser Auswuchs aus der Villacher Lichtglocke. Es mahnte zum baldigen Ende der Beobachtungsnacht. Menno! Da meine Liste nun vollendet war, ließ ich es ruhig angehen und nahm mir ein Beispiel an Norman: Noch ein paar Sternhaufen.
NGC 1444 im Perseus war der erste Halt, der mich aber nicht vom Hocker riss. Aber irgendwie war der doch ganz nett. Von einem hellen, orangefarbenen Stern spreizte sich ein Muster ab, das mich an ein Kreuz oder Kinderdrachen erinnerte. Es bestand aus nur 10 Mitgliedern und war bereits bei Übersichtsvergrößerung komplett aufgelöst.
Zweiter Sternhaufen durfte NGC 1502 sein – der war toll! Ich musste an einen Anker denken, oder an ein flaches Glöckchen mit so einem kleinen Griff oben drauf. Mittig standen die beiden hellsten, sehr dominanten Sterne; südlich von ihnen trafen sich drei Ketten, die die benannte ankerartige Form hervorriefen. Ich zählte etwa 22 Mitglieder.
„So langsam müssen wir den Tatsachen ins Auge schauen“, sagte Norman, der ähnlich wenig Lust hatte, diese tolle Nacht beenden zu müssen. „Ja, aber einen Rausschmeißer mache ich noch.“ Ich entschied mich für NGC 1245, der mit dem Spitznamen „Patrick Starfish“ stigmatisiert war. Tatsächlich erinnerte er mich irgendwie an einen Stern, aber ohne Badehose, so wie der dümmliche Namensgeber aus „Spongebob“. Vor allem im 14er wirkte der Haufen am schönsten. Im Inneren tat sich ein leerer Bereich auf, war aber ansonsten extrem sternreich. Zu viel zum Zählen. Ich zitierte Norman ans Okular, der sich das Objekt auch noch anschauen sollte, und als der Sternhaufen-Experte, der er nun geworden ist, erkannte auch er die Schönheit von 1245.
Gegen 04:20 Uhr klappte ich den Atlas zu – untrügliches Zeichen dafür, dass ich jetzt mit der Abbau-Einpack-Zeremonie beginnen werde. Mir war ziemlich kalt geworden; durch das feuchte Gras drang die Nässe in mein Schuhwerk. Die rote Picknickdecke, die Klamotten, die Karstadttüte – alles, was sich irgendwie in Bodennähe befand, war triefend vor Wasser. Selbst meine Zeichnungen haben sich etwas gewellt, was ich nun überhaupt nicht sehen möchte. Hilfe! Echt übel. Ich pendelte zwischen dem Auto und Beobachtungsplatz und trug dabei diverse Krempeleien in den Kofferraum. Auch Normans Dobson wurde in seine Einzelteile zerlegt, während auf dem Parkplatz das Auto von ein paar Frühaufstehern erschien, die für Fotozwecke auf den Gipfel gefahren waren und sich bei der Seilbahnstation herumtrieben.
Wir waren müde. Das bunte Farbenspiel der Morgendämmerung war zwar echt hübsch, und ein Orion über dem bergverzierten Osthorizont ist immer ein Augenschmaus, aber noch lieber als das wollte ich in das weiche Kissen des Hotelbetts blicken. Wir rollerten die paar Meter bis zum Pacheiner hinab und fielen dann in einen erholsamen Schlaf, der leider weckerbedingt (Frühstück nur bis 10:00 Uhr) und insektenbedingt (penetrante Fliege, die sich von Normans Haarspray unbeeindruckt zeigte) auf nur 3h zusammenschrumpfte. Egal, die nächste Nacht sollte eh verregnet werden, und am Hotelpool rumgammeln kann man auch im halbtoten Zustand. Also – passt.
‘N Beobachtungsbericht von AKE
München, 10.08.2016