In meiner internen Codierung lief der Platz unter der Bezeichnung "Dorf 1", aber irgendwie habe ich noch nie dort beobachtet. Nachdem sich "Dorf 2" und "Dorf 3" schon lange als totale Flops herausstellten, nahm ich Abstand von dem Versuch, irgendwo in der Nähe dieses Dorfes nochmal einen brauchbaren Fleck zu finden. Allerdings war der Platz, den ich im Frühling so oft ansteuerte, immer noch kompliziert erreichbar und die liebe Arbeit am nächsten Tag verhinderte eine längere Fahrt... Also, probieren wir es doch einfach mal mit "Dorf 1", geben wir dem Standort endlich mal eine Chance.
Nach einer angenehm kurzen Anfahrt von 3min kam ich 21:45 Uhr bei "Dorf 1" an. Es war klar und windstill; beim Aussteigen empfing mich der Duft nach guter Ackererde. Zum Glück war das Feld im Süden, das sich bis zum Horizont ausstreckte, bereits abgeerntet; dagegen machte mich der hohe Mais auf der anderen Seite etwas nervös, denn der bot viel Potential für allerlei Raschelgeräusche. Für das Gestrüpp entlang des ausgetrockneten Bachs direkt neben mir galt das Gleiche. In einem Punkt überzeugte mich "Dorf 1" aber schon mal: Direkte Lichter waren hier überhaupt nicht zu sehen, ganz im Gegensatz zu "Erdsilo".
Nach dem Aufbau saß ich im Auto rum und wartete. August ist einer meiner Lieblingsmonate zum Beobachten, aber bis die Dämmerung vorbei ist, dauert es immer noch ganz schön lange. Egal. Ich lümmelte bräsig im Fahrersitz und lauschte dem Konzert der Grillen (untermalt vom unablässigen Hintergrundrauschen der Autobahn) und nutzte die Zeit, den angestauten Gedankenwust im Kopf mal wieder ein bisschen zu ordnen. Im Alltag kommt man ja zu nix. Dachte ans Ötztal - vor exakt elf Jahren war ich dort, das schönste Jahr überhaupt, hatte erst am Vormittag die Bilder dazu angeguckt. Dachte an meine geplanten Objekte - viele tolle Sachen im Gepäck. Dachte an alles und an nichts.
Die ersten Sterne erschienen nach und nach am Himmel: Das Übliche natürlich, Arktur, Vega, Atair. Dann immer mehr. Und nicht nur irgendwo ab 30° Höhe, so wie ich es hier sonst gewohnt bin, nein - auch tief am Horizont waren Lichtpunkte zu sehen. Der rote da? Antares? Nanu, das ist ja verrückt. Und daneben, was ist denn das da - der Schütze?! So viele Sterne? - Der ganze Teepott war zu sehen. Hää? Diese phänomenale Entdeckung lockte mich aus meiner Bräsigkeit heraus. Das ist ja eine tolle Südsicht! Wie lange habe ich den Schützen schon nicht mehr gesehen? Und damit noch nicht genug der Sensation: Während sich die Milchstraße im Schwan wie üblich schnell vom Himmel absetzte, tauchten ihre Schleier - zerrissen vom finsteren Great Rift - auch in tieferen Lagen auf - bis zur Schildwolke, halt, nein, noch tiefer. Viel tiefer. Hoppala, ich hatte freien Blick auf den großen Bulge. Nanu? Die Milchstraße setzte sich bis zum Horizont ab - hier, an "Dorf 1".
Ich glotzte, als hätte ich noch nie zuvor im Leben die Milchstraße gesehen. Das ist ja völlig verrückt. Erinnerungen an meine erste RICHTIG schöne Milchstraße wurden wach, August 2006 im Ötztal, da kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus, aber nun, 17 Jahre später, war es ganz genauso, genau die gleichen Emotionen. Der Himmel war noch nicht mal komplett dunkel, ich stand hier mitten im verfluchten, verhassten Salzlandkreis und fühlte mich wie damals mit 15, wie kann denn das sein? Allein diese Sichtung fand ich dermaßen spektakulär, dass ich völlig beseelt und zufrieden war. Schöner kann es eigentlich schon jetzt kaum noch werden.
Nachdem ein paar Erinnerungsfotos gemacht wurden, wählte ich im Atlas ein erstes Objekt zum Einstieg aus und entschied mich für EY Lyr. Der steht gut auffindbar in einem schönen Sternumfeld und zeigte sich schon beim Aufsuchen sofort als rötlicher Lichtpunkt. Ja, ganz nett, kann man sich mal angucken, aber sooo besonders fand ich den nicht. Der Farbeindruck verblasste, während ich über eine Skizze nachdachte, und damit hatte sich die Sache auch schon erledigt.
Am Nordhorizont tauchten ein paar Wolkenflocken auf, die sich in zunehmender Höhe verteilten, mich aber nicht weiter beunruhigten. Die Milchstraße im Schützen machte mich wesentlich wuschiger. Was geht hier ab? Zweites Objekt befand sich ganz in der Nähe von EY Lyr: Der Asterismus Streicher 73. In der Übersicht fiel gleich eine große, lineare Ansammlung von eng beieinanderstehenden Sternen auf, die sich durch ihre Verdichtung gut vom sternreichen Hintergrund absetzte. Langgezogen, schlangenförmig, riesiges Feld. Richtig nett! Dagegen fiel der benachbarte NGC-Haufen nicht so gut ins Auge. Bei 138x lösten sich die engen Paare und Grüppchen richtig schön auf. Der hellste Stern, der im Osten steht, leuchtete ein wenig orange. Netter Asterismus!
Leider wurde die Beobachtung mehrfach unterbrochen von dem flockigen Wolkenteppich, der sich zunehmend von Norden her ausbreitete. Oft musste ich warten, bis die Sicht wieder freigegeben wurde – für nur eine halbe Minute, bis sich der nächste Batzen zwischen mich und mein Ziel schob. Da die Wolken insgesamt aber sehr locker waren und schnell zogen, beunruhigten sie mich nach wie vor nicht. Wird schon wieder aufreißen. Schöner Vergleich: Die Milchstraße war ähnlich hell wie die Wolken, was aber bedeutete, dass ich eins vom anderen nicht mehr unterscheiden konnte. Wenn der Schütze mal frei war, konnte ich zum Zentrum unserer Galaxie schauen – was für andere Leute ganz normal war, fand ich für meine üblichen Standortverhältnisse eine absolute Sensation und ich kam aus dem Wundern nicht mehr heraus.
Ich biss mich in der Leier fest; ein Objekt stand dort schon sehr lange aus: Der PN Min 1-64. Der „kleine kleine Ringnebel“, der ein bisschen blöd positioniert ist und einen exakten Starhop brauchte. Auch wenn man genau weiß, wo man suchen muss, fällt das winzige Scheibchen erst mit höherer Vergrößerung auf. Dann aber auch eindeutig. Der PN war gut abgegrenzt, nicht diffus, und noch relativ hell. Rund-oval. Unterbrechung durch Wolken und der Versuch, das Feld so gut wie möglich nachzuführen, um nicht wieder eine Suchodyssee starten zu müssen. Bei 360x wurde das Nachführen noch komplizierter, aber der PN war nun schön flächig. Im Zentrum nur um Nuancen dunkler, während die Nordkante kräftiger erschien als der Rest des Scheibchens.
Es raschelte ringsum immer wieder los; nicht nur im Maisfeld, sondern auch im Bachbewuchs und auf dem abgeernteten Feld. Ich hörte einen Fuchs in geringer Entfernung herumschleichen, den ich mit beherzten Tritten gegen die blecherne Leiter verscheuchte. Bisschen nervig. Gleiches galt für die Wolken. Es deutete sich aber an, dass die Front bald durchgezogen sein könnte; der Nordhorizont, wo das alles herkam, schien sich zu lichten.
Eine Galaxie in der Leier war noch offen, die schon ewig auf meiner Liste stand. NGC 6692, in unmittelbarer Nähe von Zeta Lyr, die aber zunächst nicht auftauchen wollte. War die so schwach? – Nein: Als der vorgelagerte Wolkenfetzen abzog, erschrak ich mich über die vielen Sterne im Gesichtsfeld, und auch die Galaxie war problemlos zu sehen. Sie zeigte das, was zu erwarten war: Ein nebliger, diffuser, ovaler Fleck, der zur Mitte heller war. Mehr nicht. Im DSS war eine Art Doppelzentrum zu sehen, aber das zu erkennen, liegt weit über meinen Möglichkeiten. Trotzdem wollte ich das Objekt endlich von der Liste schubsen und habe das hiermit nun pflichtbewusst getan.
Von der Leier ging es ins Füchschen und der bunte Objektreigen wurde ergänzt durch einen Emissionsnebel. Sh2-88 sieht aufm DSS sehr interessant aus; im Groben ist es ein großer und ein kleiner Nebelklumpen. Im Okular: Nix. Das Sternfeld ist sehr sehr einfach und die genaue Lage der Klumpen lässt sich durch DSS-Ausdruck prima verorten, ohne groß herumraten zu müssen, aber die hartnäckigen Wolkenschleier hatten alles gefressen, was irgendwie neblig war. Der kleinere Knäuel quälte sich noch am ehesten heraus, da er kompakter war, aber vielleicht war das auch ein verschmierter schwacher Stern, den ich da sah. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging der Vorhang endlich auf. Zitat aus dem Buch: „wenn die Wolken ganz weg sind, ist es total einfach…“ Der westliche Klumpen ist eigentlich ausgedehnter, zeigte sich aber nicht in Gänze, sondern nur seinen kompakt-rund-knäueligen Zentralbereich. Der östliche Klumpen war deutlich größer und flächiger (Zitat: „größerer Knäuel ist größer“ – ach, na sowas!) und hüllte ein paar schwache Sterne ein, die durch den [OIII]-Filter blasser aussahen, als sie waren. Konturlos, diffus.
Blick auf die Uhr: 23:50. Ich hatte Recht gehabt. Die Wolken waren nun endlich komplett durchgezogen und hatten einen glasklaren Sommerhimmel hinterlassen. Und noch immer staunte ich über dieses helle Band der Milchstraße, das sich im Nordosten erhob, quer über den Zenit hinweg das Firmament zerteilte und erst knapp über dem Südhorizont verblasste, vielleicht nur eine Handbreit. Wahnsinn. Was war hier los, irgendwo Stromausfall? Ich fand es unglaublich. Der mit Abstand beste Himmel, den ich im SLK je hatte. „Dorf 1“ hatte sich absolut bewährt, aber vielleicht hatte ich auch nur Glück mit großräumigen atmosphärischen Bedingungen. Wer weiß, ist auch wurscht, einfach genießen, dieses Wunder. Jupiter war inzwischen aufgegangen.
Die nächsten Ziele lagen im Schwan und ich freute mich besonders auf den Sternhaufen Kronberger 54. Ich hatte kein Bild mehr im Hinterkopf, hatte mir aber zumindest gemerkt, dass das ein supercooles Objekt sein muss. Ernüchterung im Okular: Was soll daran cool sein? Ich sah eine helle, lose Sterngruppe, aber nichts, was an einen Sternhaufen erinnern würde. So ein Schwachsinn… Vergrößerung auf 138x: Hoppla. Mitten in dieser losen Gruppe löste sich eine schwache, ovale Wolke ab. Fast wie eine Zwerggalaxie wirkend. DAS ist Kronberger 54, und DAS ist auch supercool! Der Patch war zunächst nicht aufzulösen, auch nicht bei höheren Vergrößerungen. Bei 200x ging er etwas mehr in die Breite und wirkte mal oval, mal dreieckig. Nach längerer Beobachtung schien eine gewisse „Ankörnung“ erkennbar zu sein; sehr schwache Sterne im Zentrum blinzelten heraus. Ja holla, was für ein toller Haufen. Machte richtig gute Laune. Mein Highlight in dieser Nacht.
Ich hörte ein Auto den benachbarten Feldweg entlangrumpeln, das am Glascontainer im Dorf anhielt und irgendwas Schepperndes reinschmiss. Machte mich kurzzeitig nervös, aber dann war wieder Ruhe. Es ging weiter mit DoDz 11. Fiel in der Übersicht sofort auf; eine helle, sternreiche, aber nicht besonders konzentrierte Gruppe. Markant war, dass sich die hellsten Sterne in einem X anordneten, welches die gesamte Fläche des Haufens einnahm. Bei 138x löste sich alles schön auf, wobei sich DoDz 11 etwas im Gesichtsfeld verlor. Durch das dominante X erinnerte mich der Haufen an einen Schmetterling. Ich schätze die Anzahl insgesamt auf mindestens 35 Mitglieder.
Mitternacht war längst durch und es war auch nicht mehr lang hin bis zum Mondaufgang. Gott sei Dank, dachte ich insgeheim, denn ich war schon sehr müde und hatte es vor lauter Aufregung nicht geschafft, vor meinem Aufbruch noch ein Stündchen die Augen zuzumachen. Egal, schlafen kann man später. Letztes Objekt war NGC 6891, bei dem mich wunderte, dass ich den noch nie nennenswert im Okular hatte. Mal wieder ohne Bild im Hinterkopf hatte ich etwas ganz anderes erwartet. Bei 138x tauchte ein brutal heller und überraschend kleiner Fleck auf, intensiv türkis leuchtend und rund-oval. Die Farbe blieb selbst bei 360x erkennbar. Das Ding war einfach nur hell. Die Scheibe zeigte sich rund mit einer deutlich kräftigeren Mitte, die mit [OIII] aber nicht in einem Zentralstern gipfelte. Die Randbereiche wirkten schalig-lappig, ohne aber konkrete Details freizugeben. Ohne Filter zeigte sich die zentrale Helligkeitszunahme noch viel deutlicher, aber etwas Stellares war dort trotzdem nicht zu sehen.
Müdigkeitsbedingt wurde mein Denken immer langsamer und konfuser. Insofern war ich nicht unglücklich, als ich um 00:40 Uhr den Mond zwischen den fernen Gebüschen im Osten durchblinzeln sah. Ich zog mit Trittleiter und Smartphone über den Acker, um noch ein paar letzte Fotos zu machen. Was für ein Himmel. So schön, so transparent, unglaublich. Ja, es ist schon viele Jahre her, dass ich mal unter richtig (richtig!) dunklen Bedingungen beobachtet habe, und da kommt einem ein guter Landhimmel plötzlich vor wie die allererste Nacht auf La Palma. Man steht einfach nur da, glotzt andächtig nach oben und hängt sich einen Wunderbeutel um.
Eine leichte Feuchtigkeit hatte sich auf den Autoscheiben abgesetzt. Ein letzter Blick auf Saturn durfte nicht fehlen – die Ringe waren in einem flachen Winkel gestellt und es zeigten sich vier Monde östlich der Planetenkugel. Einer davon war sehr dicht dran und nur zu sehen, wenn Saturn außerhalb des GF stand und ihn nicht überblendete. Es handelte sich um Thetys. Die anderen waren Dione, Rhea und Titan.
Um 00:51 Uhr fiel der Startschuss zum Abbau und 00:56 Uhr rollte ich davon, um wenige Minuten später glücklich, beseelt und ziemlich zufrieden im Bett zu versinken.