12.10.2024 - Elf Jahre später

Nachdem ich mich beim Brückenwirt vollgefressen hatte, wäre ich am liebsten einfach nur im Bett versunken, aber es war endlich eine klare Nacht prognostiziert und der Schweinehund hatte in Anbetracht dieser glücklichen Verlockung keine Chancen mehr. Da der 60%-Mond erst irgendwann nach Mitternacht untergehen sollte, hatte ich noch genügend Zeit und machte mich gegen 23 Uhr auf die Socken.


Letzte Wolkenfetzen verzogen sich und hinterließen einen klaren, mondgetränkten Berghimmel, während sich das Auto die Gletscherstraße hocharbeitete. Schön! Dummerweise war die Skisaison in Sölden durch die frühen Schneefälle längst gestartet und ich konnte schon in den Tagen zuvor auf den Rettenbach-Webcams sehen, dass nachts die Pistenraupen fuhren und mehrere Flutlichter das Areal ausleuchteten. Deswegen hatte ich mir ein paar mögliche Alternativplätze ausgesucht, und einer davon lag etwas abseits der Mautstraße unterhalb einer Seilbahnstation. Dort steuerte ich zuerst hin, um mal zu gucken, wie es da aussah, aber schon der bröckelige und stark abschüssige Weg dorthin schreckte ab. Das Auto oben stehen lassend latschte ich zu Fuß hinunter und befand, dass mir der Platz nicht zusagte, obwohl das gefällige Panorama mit den mondbeschienen Bergspitzen durchaus mein Pläsier traf.

Also fuhr ich weiter und beschloss, es einfach mit dem üblichen Beobachtungsplatz ganz oben zu probieren. Vielleicht sah das auf der Webcam einfach nur schlimmer aus, als es im Real Life war? Aber diese Ambitionen musste ich schon an der Mautstelle begraben, weil mehrere herrenlose Pick-Ups vor der einzigen Zufahrt geparkt waren, sodass dort kein Durchkommen war. Der Berlingo wäre auch nicht stark genug gewesen, um es mit der Bande aufzunehmen. Okay. Also wieder umdrehen und was anderes suchen. Ich blieb schlussendlich an einer großen Straßenausbuchtung auf gut 2.000m Höhe stehen, die keineswegs ideal war, aber die beste Kompromisslösung darstellte, die in der Situation möglich schien.


Es war schon recht kühl, knapp über der Frostgrenze, und im Gegensatz zu den sonstigen Abenden windstill. Das hätte mir noch gefehlt. Klarer Himmel, na endlich! Hatte schon befürchtet, im worst case ohne Astroeinsatz nach Hause fahren zu müssen. Alles noch vom Mond aufgehellt, aber allmählich dunkler werdend und die Milchstraße schimmerte immer deutlicher heraus. Seeing nicht gut. Irgendwo im Tal unter mir hörte man das unablässige Dröhnen des Rettenbachs, der sich geräuschevoll seinen Weg nach unten bahnte; ansonsten war es still und nichts regte sich. Ich kämpfte mich in den Kälte-Overall, baute den Dobson auf und machte ein paar Erinnerungsbilder fürs Poesiealbum. Da das Teleskop nah am Abhang stand, galt es, ein wenig aufzupassen, um nicht selber nach unten abzumarschieren. Polarlichter waren auch nicht mehr sichtbar. Jupiter strahlte hoch im Osten vor sich hin, der Orion war gerade im Begriff, seine Schultern über die Bergkämme zu schieben und im Westen näherte sich Atair dem Gipfelhorizont an. Ein Becher Kaffee (heiß und stark) beflügelte die Blutbahnen und ich freute mich tierisch über diese Beobachtungsnacht nach elf Jahren Ötztal-Pause. Zwar nicht am Gletscher und auch nicht in Gesellschaft, aber... Ötztal, verdammt!

Als es dunkel genug war, ging es an die ersten Objekte. Meine sorgfältige Planung war mal wieder für die Katz, da ich mich vorwiegend auf Ziele konzentriert hatte, die wegen des eingeschränkten Südhorizontes von diesem Punkt aus nicht sichtbar waren. Aber der Pegasus stand gut! NGC 7814, schon oft angesteuert, aber nie das Erhoffte zeigend. Bei dem ollen Seeing bestand auch nicht die meiste Hoffnung. Die Galaxie selber war leicht zu sehen; ich hatte sie allerdings wesentlich länglicher in Erinnerung. Sie war überraschend bauchig und die spitz auslaufenden Enden zeigten sich dagegen nur sehr dezent. Der nördliche Teil war wiederum etwas blasser. In der südlichen Hälfte deutete sich das Staubband etwas besser an, zeigte sich aber nur als leichter Helligkeitsabfall entlang der Achse und nicht wirklich als dunkle Linie. Das war insgesamt ein Fortschritt im Vergleich zu Beobachtungen von früher, aber nicht das, was ich gern gehabt hätte.

Nicht weit weg stand HCG 100. Sofort sprangen mir zwei helle, runde, detaillose Bällchen entgegen, die sich westlich neben zwei ähnlich hellen Sternen befanden. Der Nebel, der weiter von ihnen entfernt stand (NGC 7803), war mit Abstand am auffälligsten. Auf der anderen Seite des Sternpaars tauchte ein dritter Nebeltupfen auf – etwas schwächer und so winzig, dass er wie ein verwaschener Stern wirkte. Das vierte Mitglied der Hickson-Gruppe blieb eine Vermutung; an der skizzierten Stelle befindet sich aber tatsächlich eine Galaxie. – In der Nachbetrachtung handelt es sich bei dem beschriebenen winzigen Nebeltupfen nicht um ein Mitglied von HCG 100, sondern um eine Galaxie in der optischen Nachbarschaft namens PGC 134. Das eigentliche vierte Mitglied blieb mir verborgen.

Es ging zu UGC 364. „Trennung vom zentralen VST“ lautete die Notiz, die dazu als Hinweis im Atlas stand. Bei 124x ließ sich die Position eindeutig auffinden, aber die Galaxie war erstmal schwer. Der erwähnte Vordergrundstern, an dem sie dicht dranklebte, wirkte verschwommen, aber wenn ich es nicht gewusst hätte, hätte ich dort keine Galaxie vermutet, sondern nur befürchtet, ich wäre zu blöd zum Fokussieren. Erst bei noch höherer Vergrößerung offenbarten sich beide Parteien eindeutig: Da war der Stern, der nordwestlich von einem länglichen Lichthalo flankiert wird.

Um 01:20 Uhr gabs nochmal etwas Kaffee und Bewegung, um wieder warm zu werden. Der Overall hielt muckelig warm, aber die blöden Hände kühlen gnadenlos aus, v.a. bei Kontakt mit kalten Flächen. Bisschen auf der Straße langlatschen… Mit Blick auf die Mautstelle waren wieder mehrere Rundumleuchten zu sehen; außerdem erkannte ich die Gehöfte von „Annemaries Hühnersteign“. Es war alles ruhig. Zugegeben, ein bisschen unheimlich ists ja manchmal doch – allein an einem mehr oder weniger fremden Platz in der Dunkelheit rumzustehen, wo man komische Schatten oder Geräusche erstmal nicht zuzuordnen weiß. Aber da sich nichts bewegte, keine grünen Lichter herumschwirrten oder bedrohliche Stimmen ausm Unterholz ertönten, wurde ich schnell mit der Straßenbucht vertraut… Auch wenn mir der Gletscher lieber gewesen wäre.

Zurück am Teleskop: Arp 119 in den Fischen; so blöd gelegen, dass ich unnötig viel Zeit mit der Suche vertrödelte. Bei 124x tauchten zwei runde Knäule auf, von denen der nördliche (PGC 4748) der hellere war, rund und mit einem kräftigen Kerngebiet. Eine dritte Galaxie war zusätzlich schwach indirekt erkennbar. Bei 190x war das Bild ähnlich, aber die südliche Galaxie (UGC 849) wirkte etwas differenzierter: Sie zeigte sich größer als zuvor und mit den schwächeren Außenregionen wirkte sie ähnlich groß wie UGC 849. Außerdem oval; auf der gedachten Verbindungsachse zwischen UGC 849 und dem südlichen Feldstern lag sie „quer“. Zentralgebiet blieb schwach, war kaum heller als der Rest.

Kurz vor 02:00 Uhr: Kaffee Nummer 3, warm werden, denn die Temperatur rutschte unter den Nullpunkt und aus Richtung des Rettenbachtals kam ein unangenehmer, leichter Wind auf. Zwischendurch herrschte auch Bewegung an der Mautstation und ein Lichtkegel schob sich über die Berghänge hinweg, welcher schlussendlich bei „Annemaries“ erlosch. Gut so, denn ich dachte schon, die Pick-Up-Truppe ginge nun auf große Tour runter nach Sölden.


Ich blieb in der Gegend und suchte NGC 673 auf. Es zeigte sich bei 124x eine helle Galaxie bei einem markanten Feldstern. Oval, aber komisch geformt, irgendwie „spitz“, tropfenförmig. Explizite Spiralarme waren nicht zu separieren, aber einzelne Bereiche wirkten härter und besser definiert als andere, v.a. im nördlichen Teil. In der Mitte blitzte ein stellarer Kern heraus.

Total gut gefallen hat mir das Pärchen IC 1770/1, auch wenn sie zunächst schwierig zu finden waren. Gemäß DSS-Ausdruck befand es sich bei einem auffälligen Stern-Dreieck, doch dieses Dreieck entpuppte sich im Okular kleiner und unscheinbarer als gedacht. War es aber einmal identifiziert, konzentrierte ich mich auf einen der Eckpunkte. Ab 124x zeigten sich zwei winzig kleine, quasi identische Bommelchen, die sehr eng am Stern klebten. Das Gebilde erinnerte mich an Mickey Mouse. Putzig!

02:30 Uhr: Kaffee Nummer 4, der letzte Schluck und die Iso-Kanne war leer. Nochmal kurz durch die Gegend gelatscht. Wenn im Dunkeln das Auge als Primärsinn nicht mehr funktioniert wie gewohnt, achtet man umso mehr auf die Akustik in der Umgebung. Gerade beim Rauschen des Rettenbachs war es interessant, wie sich die Geräuschkulisse veränderte, sobald man sich nur wenige Meter bewegt und die Schallwellen auf anderen Wegen ans Ohr drangen. Immer, wenn ich hinterm Auto hervortrat, dachte ich, jetzt kommt gleich irgendwas angefahren und ich müsse in Deckung gehen… Dabei war es nur der Bach, der plötzlich lauter klang.

Es gab zwar noch ein paar weitere schöne Ziele in den Fischen, aber ich wollte mal eine andere Ecke besuchen und schwenkte in den Fuhrmann hoch. Die Richtungsänderung war praktisch, weil ich nicht mehr am Abhang vorbeitänzeln musste. NGC 1985, bei Positionskenntnis gut auffindbar, aber trotzdem gar nicht so einfach. Bei 124x ein wirklich kleines Nebelchen, rund. Filtereinsatz half überhaupt nicht; das Objekt verschwand einfach komplett. Fälschlicherweise dachte ich erst, es handelte sich um einen Emissionsnebel, aber dem ist nicht so. Höher vergrößert bot sich ein ganz ähnliches Bild. Ein kleines Sternchen zeigte sich im Zentrum und die Außengrenzen liefen recht abrupt in den Hintergrund aus, also kein diffuses Wischiwaschi. Nach Norden hin waren sie etwas härter, sodass sich die runde Form insgesamt abflachte.

Auf der Atlaskarte war noch ein Sternhaufen markiert, Koposov 43, den ich mit der Notiz „riesig u schwach“ bedacht hatte – also kein Ziel für zuhause – wenn nicht hier, dann gar nicht. Aber auch die dunkleren Bedingungen im Ötztal machten es nicht ganz einfach. „? Weiß nicht, ob ich richtig bin“, schrieb ich mir auf. Ich sah einen Doppelstern, der von einigen schwächeren Sternen umringt schien. Bei höherer Vergrößerung waren diese aber nicht so zahlreich wie erwartet und einen Haufencharakter erkannte ich in dem Gebilde nicht. - In der Nachbetrachtung: Der eigentliche Haufen liegt wenige Bogenminuten nordwestlich des Doppelsterns. Ich habe ihn nicht gesehen. Will ich, glaube, auch gar nicht mehr.


Dann ging es zu einem Häufchen mit dem wohlklingenden Namen Al J0615.1+4849. Nett! Ein loses, aber auffälliges Grüppchen aus 12 oder 13 Mitgliedern, die sich um einen zentralen Stern gruppieren. Die Form erinnerte mich an so ein stilisiertes, fünfeckiges Zirkuszelt. Die Sterne sind so verstreut, dass es auch bei niedriger Vergrößerung kein Problem ist, alle Beteiligten aufzulösen.


Als Fehlsichtung verbuchte ich den Versuch, NGC 2242 zu finden. Mit und ohne Filter war nichts zu erkennen. Je länger ich die Gegend anstarrte, desto mehr runde Pseudo-PNs tauchten allerorts auf, und beim 50. vermeintlich entdeckten PN gab ich mich geschlagen – das hat irgendwann keinen Sinn mehr.


Ich war überrascht, wie spät es schon wieder war. Allmählich rückte die gesetzte Deadline näher. Warum muss die Zeit nur immer so schnell verfliegen? Letztes DSO war ein Galaxienpärchen in Gemini. NGC 2274/5 zeigten sich bei 124x „hell und verwurschtelt“. Wie ein größerer, zusammenhängender Nebel mit zwei Helligkeitspeaks. Die südliche Galaxie (2274) erschien dabei größer und heller. Höhere Vergrößerungen zeigten beide Nebel zwar getrennt, aber sie schienen indirekt noch immer von einem diffusen Glow umhüllt zu sein. Und die nördliche Galaxie (2275) präsentierte sich größer als noch zuvor; lief ganz zart nach außen aus und verschwand blass im Hintergrund. Weitere Details gabs ansonsten aber nicht zu sehen – insgesamt blieben es zwei runde Knäule.

Der letzte Blick galt dem Mars, der rötlich in den Zwillingen vor sich hinglühte, aber nicht übermäßig hell war. Das Seeing schlug gnadenlos zu: Im Okular war nur ein einziges Gewabbel zu sehen. Eine kleine rote Kugel, die pausenlos hin- und herzuckte. Naja.


Nun war es fast Viertel 5 und ich packte mein Zeug zusammen. Bald würde ein Zirrenpaket aus Richtung Westen heranschwappen. Das war aber nicht das drängende Problem, sondern die Tatsache, dass ich für den bevorstehenden Samstag mitsamt anstehendem Programm fit sein musste – und wenn es nur 2 oder 3 Stunden Schlaf sind, die reichen auch schon – aber rechtzeitig hinlegen muss ich mich, sonst wird das nix. Ehe das Hirn nach so ‘ner Nacht runterkommt und abschaltet, das dauert immer eine Weile bei mir. Also: Ab ins Bett. Ich kurvte die einsamen Straßen bis Zwieselstein runter, wohlwissend, dass es die einzige und letzte Gelegenheit zur Beobachtung gewesen war, denn die Kombination aus Wetterprognosen, Mondphase und Abreisedatum ließen keinen Spielraum für Weiteres. Egal, positiv denken, das nächste Jahr geht’s hier weiter. Und: Das umgebaute Teleskop mit dem neuen Spiegel funktioniert wunderbar (besser als im Garten!), ich brauche keine Trittleiter mehr, die neuen Kälteklamotten haben sich bewährt und all das konnte ich im Ötztal austesten. Was will man mehr!

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